Friedrich Wolf (1888 - 1953)
Friedrich Wolf (1888 - 1953)

"Hannelore erlebt die Großstadt"

Buchcover "Hannelore":

Ausgaben von 1931 und 1932

Stefan Gotthelf Hoffmann:

Vom »aktivistischen« Dr. Grimm und Co. aus Stuttgarts »Marokko«

 

Der Briefroman „Hannelore erlebt die Großstadt“ (1932) von Clara Hohrath bietet einen vergnüglichen Streifzug durch die alternativen Reformbewegungen der zwanziger Jahre in Stuttgart

 

                                  

Über die vielseitigen politischen, sozialen, kulturellen oder jugendbewegten »Aufbrüche« in den zwanziger Jahren der Weimarer Republik, die sich überwiegend aus den Strömungen der Lebensreformbewegung speisten, existiert eine umfangreiche Fachliteratur. Was aber verändert sich, wenn diese alternativen Lebensentwürfe nicht mehr aus historischer Distanz, sondern aus dem zeitgenössischen Blickwinkel eines »dummen«, naiven 17-jährigen Mädchens vom Lande wahrgenommen und bewertet werden? Einen solchen amüsanten, unwissenschaftlichen Perspektivenwechsel in der Rezeption bietet Clara Hohraths weitgehend vergessener Jugendroman „Hannelore erlebt die Großstadt“ aus dem Jahre 1932. Innerhalb Württembergs erschien der Briefroman bereits 1931 unter dem Titel „… besonders in Stuttgart. Eine vergnügliche Geschichte von den heutigen Schwaben“ im Stuttgarter K. Thienemanns Verlag. Hohraths humorvoll-ironischer Adoleszenzroman der Neuen Sachlichkeit avancierte nach seiner Veröffentlichung zum Verkaufsschlager innerhalb des Verlags.

Worum geht es in dieser „kultur- und gesellschaftskritischen Satire“, in der Stuttgart nicht nur als „Zentrum deutscher Kultur“, sondern als Schmelztiegel aller lebensreformerischen »Sehnsüchte« oder »Aufbrüche« fungiert?

Die 17-jährige Hannelore Bäuerle, eine schwäbische Pastorentochter, berichtet ihrer Familie in Hinterbiedingen in abgeschlossenen Briefen von ihren Erlebnissen und Eindrücken in Stuttgart. Als Landpomeranze ist sie aus einem behüteten Elternhaus in die Großstadt Stuttgart zu ihrer Tante und ihrem Onkel gezogen, um an der örtlichen Musikhochschule Gesang zu studieren. Unter Mithilfe ihrer Verwandten, aber auch durch eigene Erlebnisse, lernt das Mädchen die Großstädter und die aktuellen Strömungen des großstädtischen Lebens und der Kultur kennen. In den geschlossenen Briefen an die Familie, in denen ihre Zwillingsschwester ihre wichtigste Ansprechpartnerin in allen Belangen ist, wird dem Leser ein Eindruck von der modernen Welt der zwanziger Jahre vermittelt.

 

Das Übertreten der Schwelle: Einzug in die Großstadt

In der Entwicklung Hannelores vom „Gänschen vom Land“ zu einem Großstadtmädel markiert bereits die Ankunft am Stuttgarter Hauptbahnhof die entscheidende Grenzüberschreitung der Protagonistin. Hinter ihr liegt das beschauliche Hinterbiedinger Landleben, vor ihr eine modernisierte, wenngleich fremde Welt:

„Massenhaft Leute kamen aus meinem Zug, und Onkel und ich strömten mit ihnen eine breite Treppe im Bahnhof in die große Halle hinunter, und da bekam ich schon so ein Großartigkeitsgefühl, wie ich es in unserm Hinterbiedingen nie gefühlt hab’. Es war ja schon Abend, fast 10 Uhr, und Ihr schlieft wohl schon alle – hier aber: Ich stand wie erstarrt da, als wir zum Bahnhof hinaustraten und ich all die Lichter sah, weiße und bunte, die wie Augen auf und zu klappten. Ich fragte Onkel, ob hier ein Fest gefeiert werde und ob darum illuminiert sei. Aber er sagte nein, so sei das immer in Stuttgart, denn es sei eine emporstrebende Stadt, während andere deutsche Städte stehen bleiben. Ich sah ja selbst, daß hier nichts stehen blieb, denn da sausten Autos und Stinkräder – wie wir es nennen – und Autobusse verrückt aus allen Richtungen daher, daß ich dachte: niemals kommen wir über den Platz.“

Von der schlichten „Ehrlichkeit“ des im Bauhausstil errichteten Bahnhofgebäudes fühlt sich Hannelore intuitiv angesprochen. Der Bahnhof bietet keine prunkvollen Verzierungen; dies würde auch nur von seiner eigentlichen Funktion ablenken:

„So sah ich mir derweilst den Bahnhof von außen an, denn wir standen dem gerade gegenüber. Er ist sehr breit und oben abgeschnitten und hat an der Seite einen hohen, viereckigen Turm, auf den man sich hinaufziehn lassen kann, um gleich die Stadt von oben zu besichtigen und so sich orientieren zu können. Das ist sehr praktisch. Überhaupt gefällt mir der Bahnhof sehr, er sieht so ehrlich aus, und tut nicht so, als ob er ein Schloß, oder eine Kirche, oder ein griechischer Tempel wär’, wie die Bahnhöfe, die ich in Vaters Reisealbum sah.“

Und auch ihr neues Stuttgarter Zuhause bei Tante und Onkel lässt sich in die Rubrik »Moderne« einordnen: „Wir wohnen in Marokko“, kündigt der Onkel bei ihrer Ankunft an. Mit dieser Aussage kehrt er die Schmähkritik vom „Araberdorf“, wie die Weißenhofsiedlung oft in konservativen bzw. reaktionären Kreisen der Bevölkerung denunziert wurde, ironisch und selbstbewusst um, denn er ist freiwillig und aus fester Überzeugung an diesen Ort mediterraner Architektur gezogen, der dem Stil traditioneller Wohnsiedlungen so ganz widerspricht. Hannelore beschreibt diesen Topos modernen Wohnens so:

„Es war hier mal eine Ausstellung von modernen Häusern, und die sind stehen geblieben und vermietet worden. Und weil sie alle weiß gestrichen sind und flache Dächer haben, sieht diese Siedelung auf dem Berg, vom Tal aus gesehen, so aus wie eine afrikanische Stadt. Ich war natürlich mächtig froh, daß ich so interessant wohnen solle …“.

 

Stuttgarter Boheme versus Natursehnsucht der »Jugendbünde«

Hannelore, deren Vorstellungen durch eine ländlich-konservative Sozialisation geprägt wurden, kommt in der Großstadt mit Künstlern in Kontakt, die der Stuttgarter Boheme zuzuordnen sind. Die Boheme, ein Inbegriff für Modernität und die aufstrebende junge Künstlergeneration in den Großstädten der zwanziger Jahre, ist aus Hannelores Sicht verdorben, unehrbar, da die Bohemiens ein zügelloses, lasterhaftes, aber auch interessantes Leben führen:

„In was für eine Welt bist du hier geraten, dachte ich , und das Buch fiel mir ein, das wir zusammen gelesen haben von dem Bohemeleben in Paris, was wir gleichzeitig grauslich und riesig interessant fanden.“

Riesig interessant ist für die Zopf und Nachthemd tragende Hannelore die Kunstgewerbeschülerin Ina mit ihrem bunten Pyjama, Garçonneschnitt und Zigarette im Mund. Ina repräsentiert in ihrer unkonventionellen Verbindung zu einem russischen Kostümbildner, der dazu noch „Sowjet“ ist, die neue Beziehung zwischen den Geschlechtern. Dieser Künstler und Bohemien Michael Petrowitsch singt nicht nur gefühlvoll, sondern tanzt alleine und ist dabei so unangepasst in seinem Verhalten, „so wild – und ganz ohne moralische Hemmungen“, dass er auf Hannelore abschreckend wirkt.

Als Gegenmodell zum Leben der Bohemiens können in Hohraths Roman die strengen moralischen Verhaltensregeln in den Jungenbünden der Jugendbewegung angesehen werden. Zu dem „Naturburschen“ Hug, der eine solche Gruppe anführt, fühlt sich Hannelore stark angezogen: Die blauen Anzüge, der geordnete Gesang, der respektvolle Umgang in der Gemeinschaft und vor allem die sittlichen Grundsätze der Jungen, „ohne Alkohol und Mädchen“ auszukommen und sich ganz dem Leben in der Natur hinzugeben, beeindrucken die Protagonistin. »Natur« wird in Hohraths Mädchenroman zu einer Heilskategorie überhöht, die im Gegensatz zu einer von Maschinen dominierten, industrialisierten Welt der Stadt steht. »Natur« wird als Ort begriffen, wo sich das wahre Wesen des jungen Menschen finden und bilden kann; ein »organischer« Wirkungszusammenhang, ein Ganzes, in das sich der Mensch integrieren kann. In Hannelores zivilisationskritischem Verständnis sind es die Maschinen, „die dem Menschen alle Arbeit abnehmen und ihn schließlich entkörpern“. Auch steht »Natur« im Kontrast zur konsumorientierten Erlebniswelt des großstädtischen Kaufhauses. „Da habe ich mir geschworen, daß ich weiter an einfachen Naturfreuden mich halten und auf alle verschrobene und faulige Zivilisationsgenüsse verzichten wolle“, bekennt Hannelore. Es ist das Lebensgefühl der »Vereinfachung«, »Natürlichkeit«, das sich hier ausdrückt. Das Credo des Neuen Menschen lautet, zu den Quellen eines natürlichen, einfachen Lebens zurückzukehren. Diese Lebensmaxime umschließt auch ein neues Verständnis von Körperlichkeit des Menschen.

 

Körper und Seele

Ein Vertreter dieses modernen Zeitgeistes, der auf Einklang und Gleichklang mit der »Natur« setzt, ist der Onkel Hannelores. Er repräsentiert mit seinen Sonnenbädern, der Heilgymnastik, dem Dauerlauf und dem neuen vegetarischen Ernährungsverhalten die aufkeimende Körperkulturbewegung in der Weimarer Republik sowie das großstädtische Gesundheitsbewusstsein. Hohrath entwirft ein komplexes Bild großstädtischer Lebensart dieses im weitesten Sinne bürgerlich – intellektuellen Milieus und kommentiert die Strömungen des modernen großstädtischen Lebens aus dem Blickwinkel der „dummen, kleinen Gans“ Hannelore mit ironischem Unterton:

„Und da bekam ich einen heillosen Schreck, denn ich seh da auf der Plattform (…) einen nackten Menschen kauern und dann sich aufrichten und die Arme gen Himmel recken – er drehte mir aber zum Glück den Rücken zu und er hatte auch eine kleine Badehose an. Im ersten Augenblick dachte ich an einen Einbrecher und dann, daß da ein Verrückter herumtobe – denn der Mann verrenkte sich jetzt auf die wunderbarste Weise – aber dann fiel mir ein, daß ich in Stuttgart bin und daß es vielleicht eine ganz harmlose Sache sei, die ich nur nicht begreife, weil ich von Hinterbiedingen bin. (…) Und da rief er mir zu, er sei jetzt fertig mit seiner Morgengymnastik und werde die Plattform für mich freigeben, ich solle nur ungeniert (…) meine Turnübungen vornehmen, denn es sei ungesund, sich gleich nach dem Aufstehen an den Frühstückstisch zu setzen, er werde jetzt noch einen Dauerlauf bis zum Wald machen und dann schmecke ihm sein Rettich und seine gestandene Milch herrlich. (…) Bei dem Gedanken, in den nüchternen Magen Rettich und gestandene Milch zu versenken, wurde mir ganz übel“.

Grundsatzdiskussionen über die „richtige“ Ernährung sowie Belehrungen in Form von Ratgeberliteratur, die das Gesundheitsbewusstsein wecken und lenken wollen, können da nicht ausbleiben:

„Wie ich gestern (…) heimkam, fand ich in meinem Zimmer den kleinen Klapptisch übersät mit Broschüren mit flammenden Aufschriften: Nieder mit dem Blutdruck! Wie entgifte ich mich? Mit vierzig Jahren immer jünger! Schaff dir Nervenkraft durch Pflanzenrohsaft!

Es wäre jedoch ein Missverständnis anzunehmen, die Suche nach dem Neuen Menschen reduziere sich auf ein neues Körpergefühl. Denn zu den »freien Körpern« gehörten zwingend auch die »freien Seelen«. Nachdem Hannelore den Rat ihres Onkels ausgeschlagen hat, durch Ernährungsumstellung einen gesunden Geist schaffen zu wollen, greift die Tante ein und geht mit ihr zu einem Psychiater. Binnen einer einzigen Behandlung vollbringt der tüchtige Seelenarzt das Wunderwerk an der Protagonistin, ihr ihre Hemmungen in der Gesangsausbildung zu nehmen, indem er ihr klarmacht, dass das Singen lediglich ein Spiel sei, das man nicht zu wichtig nehmen dürfe: „Wurstigkeit, mein kleines Fräulein, mehr Wurstigkeit, und die Hemmungen werden dahinschmelzen“.

Neben dem damals aufkommenden Interesse an der Psychoanalyse im Sinne Sigmund Freuds wird auch die Anthroposophie thematisiert, der sich Hannelores Cousin Felix verschrieben hat. Doch mit den kosmologischen Anschauungen R. Steiners von Mensch und Welt, die sich aus okkulten und esoterischen Quellen schöpfen, kann die bodenständige Hannelore nichts anfangen. Denn diese „Geisteswissenschaft“ kommt ihr „wie eine Religion“ vor. Dass ihr Cousin Felix „außer seinem sehr dünnen Alltagsleib im Hintergrund noch einen Astralleib besitzt“, empfindet sie allerdings als beruhigend. Aber weder durch die Aufführung einer anthroposophischen Eurhythmiegruppe noch durch die neuen Kultusformen im Gottesdienst der anthroposophischen Christengemeinschaft gewinnt Hannelore einen tieferen Zugang zu dieser neuen Heilslehre, sie empfängt lediglich Impressionen:

„Aber auch das wird mir nicht gefährlich, lieber Vater, wenngleich diese neu erfundenen Priester – noch dazu ist einer davon eine Frau – schöne Stolas tragen, Weihrauch aufsteigen lassen und sehr feierlich und schön klingende Worte sprechen (…)“.

Kenner der anthroposophischen „Szene“ in Stuttgart werden in der hier ausdrücklich erwähnten Priesterin leicht Kaethe Wolf-Gumpold, die erste Ehefrau Friedrich Wolfs, erkennen können, die als eine der ersten Frauen in der Christengemeinschaft zur Priesterin ordiniert wurde.

Hannelore aber bleibt von dem Gottesdienst unberührt. Kosmologisch-mystische Einflüsse der Moderne lassen sie anscheinend kalt. Sie nimmt in Stuttgart sogar an einer Séance teil, die allerdings von einem Scharlatan inszeniert wurde, um anschließend ganz trocken festzustellen: „Ich bin für solchen Spiritistenglauben zu nüchtern veranlagt, wie mir scheint.“

 

Kulturleben in der Großstadt

In Hohraths Roman erscheint Stuttgart als Kulturmetropole mit vielfältigen Angeboten, von denen Hannelore reichlich Gebrauch macht. Bei ihrem ersten Kinobesuch in ihrem Leben schaut sie sich einen Zeichentrickfilm („Micky Maus“) sowie einen Tonfilm über den preußischen König Friedrich II. an; im Marionettentheater am Ende des Stadtgartens ist sie von dem Südseeinselstück „Gigitulpa“ sowie vom Klassiker „Faust“ begeistert. Schrecklich findet die Gesangsstudentin hingegen Bertolt Brechts Stück „Die Dreigroschenoper“ im Schauspielhaus, für die Kurt Weill die Musik komponierte.

Den experimentellen atonalen Kompositionsstil Weills ist sie scheinbar nicht gewohnt, denn in die „Dreigroschenoper“ flossen Elemente aus Jazz, Tango, Blues sowie der Jahrmarktsmusik mit ein. Zwar liebt Hannelore traditionelle Musikstile, dennoch freut sie sich darauf, als Chormitglied der Hochschule an der Aufführung der Schuloper Brechts „Der Jasager“ (Vertonung von K. Weill) mitwirken zu können.

Bei der Theaterrezeption Hannelores nimmt die Tante eine strenge erzieherische Funktion wahr, denn sie achtet penibel darauf, dass ihre Nichte nur „anständige“ Stücke zu sehen bekommt:

„Sie hat vier Wochen lang die Theaterzettel kritisch durch die Brille angeschaut, ob sich da ein Stück zeigt, das weder unanständig noch grausig noch aktivistisch sei und von keinem Paragraphen handle, und dann ist endlich ein altes Stück angezeigt worden, das Konzert von Bahr, und da hat sie gleich den Finger daraufgelegt und gesagt, das ist das Rechte, da hinein gehen wir.“

Die Bezüge zu den realen Gegebenheiten des Stuttgarter Theaterlebens Ende der zwanziger Jahre sind offensichtlich: Nur die unpolitische Ehekomödie „Das Konzert“ von Hermann Bahr (1863-1934) ist für die Tante akzeptabel, keinesfalls aber Friedrich Wolfs politisches Zeitstück „Cyankali - § 218“, das 1929 am Württembergischen Landestheater uraufgeführt wurde und in der Gesellschaft hitzige Kontroversen um den Abtreibungsparagraphen 218 entfachte. Das politische Kampfstück Wolfs wird von der Tante mit Attributen wie „unanständig“, „grausig“, „aktivistisch“ pauschal abgewertet.

 

»Dr. Grimm« alias Friedrich Wolf

Überhaupt nimmt der zu „Dr. Grimm“ literarisierte Stuttgarter Arzt für Naturheilkunde und Homöopathie, der kommunistische Schriftsteller Friedrich Wolf (1888-1953), eine bedeutsame Nebenrolle in Hohraths Roman ein. Dabei erweist sich der Onkel als Anhänger des Naturarztes und aktivistischen Dichters „Dr. Grimm“. Wie sein großes Vorbild glaubt auch er an die seelische Reinigung durch eine gesunde Ernährung. Vegetarismus, körperliche Ertüchtigung sowie die heilenden Kräfte von Sonne, frischer Luft und Wasser stellen quasi den Schlüssel zu einem gesunden, glücklichen Leben dar. Wie sehr diese Lebensmaxime auf Friedrich Wolfs zivilisationskritisches Gesundheitsbewusstsein zurückgreift („Die richtige Ernährung ist das Fundament unserer Gesundheit!“), kann man leicht anhand zahlreicher Gesundheitsbroschüren wie „Dein Magen kein Vergnügungslokal“, „Herunter mit dem Blutdruck“, „Trotz Tempo 1000… gesund“, vor allem aber anhand des umfangreichen Ratgebers Wolfs „Die Natur als Arzt und Helfer“ (1928), der zu einer Art alternativmedizinischen »Hausbibel« avancierte, ermessen. Und noch eine weitere Analogie zur Realhistorie hält der Roman bereit: Gerade Friedrich Wolf verkörpert mit seinem Bewusstsein vom Wohnen in der Neuen Sachlichkeit die Einbettung des Weißenhofgedankens in die modernen Reformbewegungen. In einer »Hausung« (Wolf) laufen die Bestrebungen der sozialmedizinischen Naturheilkunde, der Jugendbewegung, der Bodenreform zusammen. »Vereinfachung«, »Reduktion zum Notwendigsten!«, »Klarheit« und »Wahrhaftigkeit« sind gleichermaßen Schlüsselbegriffe für Naturheilverfahren wie für die Architektur des neuen Bauens: „Was das neue Bauen nach dem Chaos des Scheinbarocks und der Gründerzeit jetzt zu schaffen beginnt, genau das erstrebt in der Heilkunst die Naturheilkunde. Im Grunde der gleiche Drang nach Vereinfachung …“, schreibt Wolf in dem Vorwort seines naturärztlichen Hausbuches. Ursprünglich wollten Else und Friedrich Wolf eines der Häuser in der Weißenhofsiedlung beziehen, als dies jedoch nicht möglich war, beauftragten sie den bedeutenden Stuttgarter Architekten Richard Döcker, in der Zeppelinstraße, Halbhöhenlage im Stuttgarter Westen, ein licht- und luftdurchflutetes avantgardistisches Flachdachhaus zu errichten, das mit Leimfarben und Ölanstrich statt Tapeten und Linoleumböden Neues Bauen und den Kampf um den neuen Menschen verbindet. Diese Synthese von Nutzer und »Hausung« hat der russische Schriftsteller Sergej Tretjakow ironisch-pointiert so beschrieben:

„Das Haus – ein weißer Würfel. Bruchstück von einem Sanatorium. (…) Ich bin zu Gast im Hauswürfel. (…) Im Hauswürfel ist es absolut sauber, nichts Überflüssiges hängt an den Wänden. Im Hauswürfel ist es absolut still. Nur ein Raum gibt ein Morgenkonzert. Es besteht aus Scheppern, menschlichem Grunzen und Wassergeplätscher. Ein glühendroter Mann hockt in der Wanne und schüttet sich eiskaltes Winterwasser auf die Schenkel. Bis zu hundertmal. Dann begießt er sich die Schultern. (…) »Bei dieser Art, sich zu waschen«, zitiert er, »ist eine Erkältung ausgeschlossen. « (…) Ich sage: »Guten Morgen, Hausherr. Mir gefällt, wie du gebaut bist, Genosse Wolf. « Ich habe ins Schwarze getroffen, als ich das Lieblingswerk des Hausherrn lobte – ihn selbst. (…) Sagen Sie ihm nur nicht, er sei so auf die Welt gekommen. Er wäre beleidigt. Er selbst hat sich so gemacht, zumindest so erhalten. (…) Die Gesetze dieses Hauses sind streng wie bei den Altgläubigen. Während eines Spaziergangs kaufe ich mir in der Stadt ein Stück Wurst, um sie bei mir im Zimmer zu essen, und später verberge ich meinen durch Fleisch entweihten Atem (…)“.

Auch „Dr. Grimm“ in Hohraths Roman zeichnet sich durch ein strenges Gesundheitsbewusstsein und durch eine Haltung aus, dass sich der Dichter nicht im Elfenbeinturm verschanzen dürfe, sondern mit seiner Literatur in die sozialen Konflikte der Gesellschaft eingreifen und Partei für die Schwachen ergreifen müsse.

Die Frage, ob der Naturarzt „Dr. Grimm“ ein guter Ratgeber für Hannelore sein könne, führt deshalb zu heftigen Kontroversen zwischen Onkel und Tante: Der Ohm ist dafür, die Tante lehnt jeglichen Kontakt Hannelores mit diesem „Paragraphenarzt“ strikt ab. Innerlich rebelliert die Siebzehnjährige jedoch gegen die restriktive Erziehung der Tante und hört sich gemeinsam mit ihrem Onkel einen Vortrag von „Dr. Grimm“ über die gesellschaftspolitische Wirkungsabsicht des Theaters an. Anfangs ist die Protagonistin von den kämpferischen Positionen dieses „aktivistischen Dichters“ fasziniert, doch im Nachhinein hinterlässt dieser Vortrag keinen tieferen Eindruck, der ihr Verständnis von der Aufgabe der Kunst in der Gesellschaft verändern könnte. Kurz: Zwar wirkt sie aufgeschlossen gegenüber Neuem, die Grenzen ihrer bildungsbürgerlichen Sozialisation aber verlässt Hannelore nie:

„Onkel hat mich in einen Vortrag seines Leibarztes Doktor Grimm mitgenommen. Ich habe da allerlei gehört und mir vieles aufnotiert, was für Dich als Schriftstellerin Wert haben kann. Denn Du mußt wissen, daß dieser Doktor Grimm nicht nur Arzt, sondern auch Politiker und Schriftsteller ist und zur ‚jungen Dichtergeneration’ gehört, von der in Stuttgart jetzt viel die Rede ist und zu der auch der Verfasser der Dreigroschenoper gehört. Diese junge Dichtergeneration schreibt aktivistische Stücke – merk Dir das Wort, wenn Du aktuell schreiben willst, mußt Du nämlich solche Worte einflechten! – und sie macht die ‚Bühne zum Tribunal’. Auch das mußt Du Dir merken. Es heißt, daß sie einem da schauderhafte Dinge sehen und hören lassen, um zu zeigen, welch furchtbare Schäden es in unserem Gesellschaftsstaat gibt, ganz besonders in Erziehungsanstalten und Gefängnissen und im Gesetzbuch, aus dem heraus nach falschen, veralteten Paragraphen gerichtet wird, anstatt nach menschlichen Erbarmungsgefühlen. Die ‚junge Dichtergeneration’ ist kommunistisch eingestellt und benützt die Kunst als Waffe, worüber die ältere Dichtergeneration sich sehr entrüstet, indem sie sagt, die Kunst dürfe nie als Waffe mißbraucht werden, sie müsse eine Erholung und ein Spiel bleiben. Woraus ich schließe, daß mein Psychiater, obschon er jünger aussieht als der Doktor Grimm, doch zur älteren Generation gehört.

Solange der grimmige Grimm sprach, war ich ganz seiner Meinung und nahm mir vor, Dir zu schreiben, Du müßtest unbedingt mitkämpfen und auch aktivistische Stücke schreiben, damit die Theaterbesucher einen starken Abscheu vor allem Abscheuungswürdigen bekämen und hingingen und die Gefängniswände einrissen oder mit Dynamit sprengten – natürlich, nachdem sie vorher die Gefangenen herausgeholt hätten – und die Richter köpften oder wenigstens recht verhauten. Der Doktor Grimm sagte, er müsse sich wundern, wie feig Stuttgart sich zurückhalte, wenn es gelte, ein aktivistisches Stück aufzunehmen. Da sei Berlin doch anders begeisterungsfähig und für das tüchtige Neue zugänglich. Worauf dann ein Stuttgarter Herr aufstand und ganz ruhig sagte, ja, wir Schwaben seien schwerfällig und bedächten uns gern eine Weile, ehe wir uns für etwas begeisterten, aber dafür fielen wir dann auch nicht so leicht herein wie die Berliner. Das freute mich natürlich, und es schmunzelten auch alle Schwaben, die da herumsaßen. Aber der Grimm ließ sich nicht irre machen und donnerte weiter.“

Man sieht: F. Wolfs kathartisches Modell kämpfender Kunst wird hier aus dem Blickwinkel einer »naiven« 17-jährigen Landpomeranze beschrieben. Die Ironie der Darstellung besteht darin, dass die Protagonistin ein nur oberflächliches Verständnis entwickelt und daher kaum in der Lage ist, die gesellschaftspolitischen Intentionen dieser Art von operativer Literatur zu erfassen. Denn hitzige Spontanaktionen wie das Verhauen eines Richters durch die emotional elektrisierten Zuschauer führen eben nicht zu einer besseren und sozial gerechteren Gesellschaftsordnung. Die Wirkungsabsicht der neuen aristotelischen Dramatik F. Wolfs besteht vielmehr darin, die Zuschauer durch eine »reinigende« Entscheidungssituation zu einem politischen Handeln außerhalb des Theaters zu bewegen. Man kann hier auch von Aktionsdramatik sprechen, bei der der Zuschauer nicht als „kulinarischer“ Rezipient, sondern – im Idealfall – als mitspielender Akteur fungiert. Hannelore aber subsumiert Stückeschreiber wie Bertolt Brecht und Friedrich Wolf, die mit ihren Werken ganz unterschiedlichen Dramenkonzeptionen folgten, pauschal unter dem Aspekt „aktivistische Dichter“, andererseits jedoch legt sie in ihrer vermeintlichen Naivität eine der Hauptschwächen des Wolf’schen Dramentypus’ bloß: Denn wie bei einem Theater der »Einfühlung«, d.h. der »Identifikation« mit den fortschrittlichen Bühnenfiguren, die affektive Wirkungskraft in ein überlegtes politisches Handeln der Zuschauer kanalisiert werden und somit zu einer politischen Bewegung anwachsen könne, bleibt in Wolfs Konzeption ungelöst.

Für Hannelore ist klar, dass sie, anders als „Dr. Grimm“ alias F. Wolf, ihre Kunst niemals als Waffe einsetzen würde, sondern ganz unpolitisch, um anderen Menschen mit ihrem Gesang zu erfreuen. Die Haltung der Tante ist viel rigoroser, polemischer: Sie verwirft die „Tribunalstücke“ der „jungen Herren Aktivisten“ prinzipiell; politische Kampfstücke riefen in ihrer Sicht durch das „Aufhetzen, Zerschlagen und Einreißen“ lediglich ein „wüstes Chaos“ hervor. Hannelore aber schließt sich der Position ihres Onkels an, der ganz im Sinne „Dr. Grimms“ (F. Wolfs) argumentiert, „das Einreißen müsse stets dem Neuaufbauen vorausgehen, und aus dem Chaos entstünde die neue Welt“. Hannelore teilt diesen differenzierenden Fortschrittsgedanken, wenngleich sie selbst niemals auf die Idee käme, sich bei diesem Prozess zu engagieren oder gar eine Führungsrolle zu übernehmen. Sie schwankt vielmehr zwischen Offenheit gegenüber dem Neuen der Moderne und einem ausgeprägten Traditionsbewusstsein hin und her.

 

Fazit: In diesem Jahr 2012 wird Hohraths „Hannelore“ -Roman 80 Jahre alt. Das sollte nicht ohne Folgen bleiben. Denn der Briefroman ist nicht nur vergnügliche Unterhaltungsliteratur im Kontext der Neuen Sachlichkeit, sondern ein aufschlussreiches kulturgeschichtliches Dokument, das nicht nur bei Stuttgartern auf Interesse stoßen wird. Deshalb wäre eine Neuauflage dieses liebenswürdigen „Schätzchens“ so wünschenswert.

 

In diesen Beitrag sind Forschungsergebnisse von Jörg Stürzebecher ("Weissenhof-Geschichte" insbesondere die Entschlüsselung der literarischen Figur "Dr. Grimm" als Friedrich Wolf, desing-report 2007), Birte Tost ("Moderne und Modernisierung in der Kinder- und Jugendliteratur der Weimarer Republik", Frankfurt/M. 2005) sowie Elisabeth Bunge ("Clara Hohraths Hannelore erlebt die Großstadt - Eine vorzügliche Geschichte von den heutigen Schwaben als Adoleszenroman der Neuen Sachlichkeit", 2007) eingegangen.

 

Der Verfasser Stefan Gotthelf Hoffmann hat im letzten Jahr ein Buch über Friedrich Wolf veröffentlicht: Der andere Wolf. Fremde Einblicke in Leben und Werk Friedrich Wolfs (1888-1953). Edition Schwarzdruck, Berlin 2011, 443 Seiten, ISBN 978-3-935194-44-0, 27,00€

 



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